Vor genau einem Jahr ist meine Oma gestorben. Oma Betty. In den ersten Stunden und Tagen nach ihrem Tod flossen die Worte nur so aus mir heraus. Ideen, Gedanken, Erinnerungen. Ich schrieb und weinte, manchmal gleichzeitig, manchmal im Wechsel. Dann, von jetzt auf gleich, hörte ich auf, über meine Oma zu schreiben, von vereinzelten Tagebucheinträgen abgesehen. Bis heute, ein Jahr später. Vielleicht lag es schlicht daran, dass – zum ersten Mal in meinem Leben – Schreiben mir nicht geholfen hat, mir nicht helfen konnte. Weil ich mich stumpf und wortlos fühlte. Weil ich traurig war und meine üblichen Bewältigungsstrategien versagten. Es dauerte bis zu diesem Sommer, bis ich mich wieder annähernd wie die fühlte, die ich war. Bis sich nicht mehr alles trüb und schwer und bedrückend anfühlte.
Im September genoss ich die Rückkehr des Sommers, gleichzeitig dachte ich an den September letztes Jahr: Meine Oma lag damals schon im Krankenhaus und zum ersten Mal seit langem ging es ihr halbwegs gut, denn der Katheter an ihrem Bein nahm ihr den Schmerz, den ihre Arteriosklerose sonst jede Sekunde, jede Minute, jede Stunde des Tages verursachte. Rund um die Uhr Schmerzen haben, wer kann sich das schon vorstellen. Noch immer galten Corona-Bestimmungen, meine Oma durfte nur von einer Person am Tag für eine Stunde besucht werden. Bei meinem ersten Besuch saß ich neben dem Bett und hielt die Hand meiner Oma. Ihre kleine, blasse Hand. Ich war so froh, endlich dort zu sein, meine Oma sehen zu können. Wir sprachen über das Buch, das ich schreiben würde, gerade hatte ich den Vertrag erhalten. Über die Hochzeit einer Freundin und alles, was damit zusammenhing. Ich erzählte, dass ich ein grünes Satin-Kleid tragen würde, meine Rede fertig geschrieben sei und ich eine Freundin als Begleitung mitnehmen würde. Ich erwähnte den Namen eines Ex-Freundes, was meine Oma für einen Moment glauben ließ, ich würde ihn mit zur Hochzeit nehmen. Empört sah sie mich an: „Mit dem bist du doch wohl nicht wieder zusammen?“
Meine Oma war krank, sehr krank, und das sehr lange. Und trotzdem war sie bis zum Ende ganz sie selbst.
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Meine Oma war klein, nur knapp einen Meter fünfzig. Sie war mal größer, aber im Alter schrumpfte sie zusammen, nahm weniger Platz ein. Manchmal, wenn sie auf einem etwas höheren Stuhl saß, baumelten die Beine herum wie die eines Kindes, sie erreichten den Boden nicht mehr, nicht mal mehr mit der Fußspitze. Meine Oma haderte nicht mit ihrem Alter, zumindest nicht oft. Sie haderte vor allem mit ihrer Frisur. Das graue, kurze Haar war dünner geworden. „Flusig“, sagte sie. Wenn sie für eine Verabredung zu Hause abgeholt wurde, war sie nie fertig. Sie stand vorm Badezimmerspiegel und zupfte an ihren Haaren herum: „Hat die Frisörin wieder nicht gut geschnitten.“ Was Haare anging, war sie auch bei anderen kritisch. „Du hast die Haare schön“ – das war ihr größtes Lob. Das Haar musste auch dann liegen, wenn meine Oma im Krankenhaus war. Da war sie über Jahre regelmäßig, als es mit ihren Beinen schlimmer wurde. Erst Infusionen, dann Eingriffe. Dass die Haare im Krankenhaus gut lagen, war deshalb wichtig, weil meine Oma dort Menschen begegnete, die sie nicht kannte.
Was andere Menschen dachten, war meiner Oma wichtig. Zu wichtig, würde ich sagen. Oft habe ich mich darüber geärgert: dieses ständige Nachdenken darüber, was andere sagen und denken, wie man auf andere wirkt. Dieser Fokus auf Äußerlichkeiten. Wie oft bin ich bei meinen Großeltern aufgetaucht, gerade aus dem Zug gestiegen, gerade einen Termin absolviert, nur, um von meiner Oma zu hören: „Ganz schön blass siehst du aus.“ Oder: „Hast du wieder Hautprobleme?“ Je älter ich wurde, desto besser konnte ich damit umgehen. Auch deshalb, weil ich meine Oma besser verstand. Sie war als älteste von vier Schwestern mit einer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen, ihr Vater hatte sich davongemacht, um eine Beziehung mit der Nachbarin anzufangen. Damals war das eine große Schande und natürlich redeten die Leute. Umso wichtiger war es meiner Urgroßmutter Bertha, dass man sich nichts zuschulden kommen ließ. Man passte sich an, sah adrett und ordentlich aus. Meine Oma hat oft von dieser Zeit erzählt, von der Kriegszeit, als man nichts hatte und oft hungrig ins Bett ging.
(Meine Oma, rechts, mit ihrer Mutter und ihren Schwestern)
Wahrscheinlich war meine Oma auch deshalb so eine Schnäppchenjägerin: Sie dachte immer noch wie damals, als man auf das Geld achten musste. Jede Woche ging sie die Supermarktkataloge, die in ihrem Briefkasten landeten, sorgfältig durch, markierte die Sonderangebote in den verschiedenen Läden. Wenn meine Mutter einmal wöchentlich für sie einkaufte (anfangs, als sie noch laufen konnte, bestand meine Oma darauf, mitzukommen), erklärte sie ihr: „Die Dosenpfirsiche, aber die im Angebot für 99 Cent, nicht die normalen.“ Oft brauchten meine Mutter und meine Oma im Supermarkt sehr lange, weil meine Oma nach einem bestimmten Sonderangebot suchte oder verschiedene Butterpakete in die Hand nahm, darauf herumdrückte und sie dann wieder zurück ins Regal legte. Sie wollte die beste Qualität für das wenigste Geld. Marken waren bei ihr deshalb etwas Besonderes. „Ich habe die Guten gekauft“, sagt sie, wenn sie eine Packung Lindt-Pralinen aus dem Schrank holte. Grundsätzlich, und das betonte sie immer wieder, machte sie sich aber nicht viel aus Marken. Sie kaufte bei Lidl und Aldi, schließlich hatte sie in diversen Testberichten gelesen, dass Markenprodukte meistens gar nicht besser sind als die Billig-Versionen. Als wir im Juni 2022 den 89. Geburtstag meiner Oma feierten – ihren letzten –, schenkte ich ihr eine Körperlotion für trockene Haut. Ich hatte meine Mutter um Rat gefragt, sie nannte eine Marke, die der Arzt empfohlen hatte, eine Apothekenmarke. Meine Oma packte die Lotion aus, bedankte sich, und sprach dann ausgiebig darüber, dass man eine ähnliche Lotion viel günstiger bei Aldi bekäme. Ich saß auf dem Sofa und stocherte in meinem Kuchen herum.
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Meine Uroma Bertha war tüchtig und jammerte nicht und das hatte meine Oma sich von ihr abgeschaut. Wenn es ein Problem gab, packte sie es an, Selbstmitleid konnte sie nicht ertragen. Als älteste Tochter musste sie schon früh Verantwortung übernehmen, denn meine Uroma war nicht nur alleinerziehend, sondern auch krank – ihre Krankheit vererbte sie meiner Oma. Über ihren Vater sagte meine Oma nur, er sei ein Nazi gewesen. NSDAP-Mitglied. Es gibt kein einziges Foto von ihm. Nachdem er die Familie verlassen hatte, wollte sie nichts mehr mit ihm oder ihren Halbgeschwistern zu tun haben. Das Beispiel ihres Vaters lehrte meine Oma, dass Männern grundsätzlich nicht zu trauen ist. Natürlich, sie hat geheiratet, und sie erwartete von Frauen, dass diese in einer Partnerschaft mit einem Mann leben, denn so macht man es eben. Trotzdem hatte sie eine schlechte Meinung von Männern und war immer bereit, das Schlimmste von ihnen anzunehmen. Wenn sich eine Bekannte, Freundin oder Verwandte über ihren Partner beschwerte, nickte sie: „So sind Männer.“ Sie klang dabei zufrieden, so, als hätte sich wieder einmal etwas bestätigen, was sie schon lange wusste. Meine Mutter sagt, meine Oma hätte meinen Opa auch deswegen geheiratet, weil er so gut zu ihren Schwestern gewesen sei. Er habe sich um sie gekümmert, sei nett und aufmerksam ihnen gegenüber gewesen. Meine Oma war keine romantische Frau und manchmal hatte ich den Eindruck, alles was mit Liebe zu tun hatte – Emotionen zeigen, Zuneigung – war ihr etwas peinlich.
Einmal hat meine Oma sowas gesagt wie: „Naja, wenn man sich nochmal entscheiden müsste, würde man es wieder so machen?“ Sie lachte. Mit dem es meinte sie die Ehe mit meinem Opa, aber weil sie lachte, war nicht klar, wie ernst sie es meinte. Meine Großeltern beschwerten sich bei meiner Mutter gerne übereinander. „Du weißt ja nicht, wie er zu mir ist, wenn wir alleine sind“, sagte meine Oma, und dass mein Opa richtig blöd sein könne. „Sie will mir immer Vorschriften machen und mich kontrollieren“, sagte mein Opa, und dass er doch nur seine Ruhe haben wolle. Jahrzehntelang war ihre Ehe funktional, die große Liebe war es wohl nie. Zumindest nicht für meine Oma. Mein Opa hingegen war schon sehr verliebt in sie. Er sollte eigentlich eine andere Frau heiraten, so hatten es seine Familie und die der künftigen Ehefrau ausgemacht. Auf einer Feier begegnete mein Opa dann aber einer Freundin seiner von den Eltern Auserwählten – diese Freundin war meine Oma. Vor kurzem habe ich meinen Opa gefragt, ob meine Oma seine erste Freundin war. Er bejahte und erzählte mir, dass er früher schüchtern gewesen sein. Seine Freunde hätten immer mit den jungen Frauen am Kanal herumgeschäkert, das hätte er sich nicht getraut. „Mein Vater, der war brutal“, sagte mein Opa. Er schlug seine Ehefrau, meine Uroma Louise. So lange, bis mein Opa alt genug war und dazwischen ging. Was ich verstand, war, dass mein Opa gelernt hatte, sich zu Hause klein zu machen, sich zurückzuhalten. Und dass er sich so auch außerhalb der elterlichen Wohnung verhielt.
Meine Oma war meinem Opa gegenüber oft ungnädig. Es scheint, als konnte sie ihm nicht verzeihen, dass er nicht mehr der junge, attraktive und schlanke junge Mann war, den sie vor vielen Jahren geheiratet hatte. Sie tat sich besonders schwer damit, dass mein Opa viele Dinge nicht mehr so konnte wie früher. Reparaturen in der Wohnung zum Beispiel oder das Herumfahren ihrer Schwestern. Mein Opa hat seinen Führerschein bereitwillig abgegeben, als er merkte, dass es nicht mehr ging. Meine Oma, die keinen Führerschein besaß, hat ihm das schon ein bisschen übelgenommen. Vielleicht, weil sie wusste, dass ihnen Stück für Stück ihre Unabhängigkeit verloren ging. Dass sie immer öfter würden um Hilfe bitten müssen, darum, dass mein Vater den Fernseher repariert oder meine Mutter sie zu einem Kaffeetrinken fährt.
Das Streiten und das Sich-übereinander-Beschweren waren typisch für meine Großeltern, Teil ihrer jahrzehntelangen Beziehungsdynamik. Und ja, oft war das anstrengend. Nach dem Tod meiner Oma erinnerte ich mich durch Zufall an eine Geschichte, die schon ein paar Jahre zurückliegt. Damals hatten meine Großeltern – mal wieder – Streit. Meine Oma, darum drehte sich der Streit, fühlte sich von meinem Opa bevormundet. Sie fand, er nehme sie nicht ernst. Das sah mein Opa naturgemäß ganz anders. Es ging hin und her und am Ende sprach meine damals 85-jährige Oma folgenden Satz: „Ich lasse mir das von dir nicht bieten, ich bin schließlich die Großmutter einer Feministin!“ Meine Mama erzählte mir diese Geschichte und wir amüsierten uns köstlich über meine plötzlich rebellische Oma.
(Meine Großeltern und ich auf ihrer Eisernen Hochzeit 2018)
Und doch gab es diese kleinen Momente der Nähe zwischen meinen Großeltern. Vor einigen Jahren starb der Schwager meiner Oma, alle anderen Schwager waren schon tot. Meine Oma hatte zu diesem Zeitpunkt bereits Probleme mit dem Laufen, der Fußboden auf dem Friedhof war uneben, sie wankte unsicher den Weg entlang. Ganz unauffällig ging mein Opa neben ihr, ganz selbstverständlich hakte er sich bei ihr ein, stabilisierte sie. Langsam liefen sie zusammen weiter, vorsichtige, kleine Schritte. Arm in Arm.
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Der erste Winter und Frühling ohne meine Oma erscheinen mir im Nachhinein als eine Aneinanderreihung von Augenblicken, in denen ich neben mir stand. Körperlich anwesend war, aber sonst nichts. Innerlich wie ausgehöhlt. Ich erinnere mich insbesondere an eine Party in Berlin, zu der ich eingeladen war. Den ganzen Abend saß ich neben verschiedenen Personen, mit denen ich verschiedene Gespräche führte. Ich hörte mich sprechen, reagieren, und es kam mir vor, als würde ich mich von außen beobachten, mich Julia, eine Person, die dort saß und sich unterhielt, die aber wenig mit mir zu tun hatte.
Über Ostern fuhr ich ins Ruhrgebiet, nach Herne. Meine Eltern besuchten mit meinem Opa zusammen meinen Onkel an der Nordsee, ich hatte das Haus für mich und meine Arbeit. Ich war auch vorher schon in Herne gewesen, klar, ich hatte mich daran gewöhnt, dass meine Heimatstadt nun nicht mehr meine Oma enthält. Und dennoch überwältigte mich im April ihre Abwesenheit. Ich sah meine Oma überall, sie war in allem.
An dem Tag, an dem meine Oma 90 geworden wäre, dem 7. Juni 2023, ging ich mit meinem Opa essen, in seinem Lieblings-China-Restaurant (die Art von Restaurant, in dem es ein Mittags-Buffet gibt und wo Chicken Nuggets, Pommes und Frühlingsrollen in völliger Harmonie nebeneinander angeboten werden). Meine Eltern waren auf einer Hochzeit in Bayern, meine Schwester beruflich unterwegs. Ich war für ein paar Tage nach Herne gekommen, um meinem Opa Gesellschaft zu leisten, ein paar Einkäufe für ihn zu erledigen, zu kochen. Mein Opa ist 95 und lebt nun allein in der Wohnung, in die er und meine Opa Anfang der 1960er eingezogen sind. Ich hatte gedacht, dass der Geburtstag meiner Oma mir nicht viel ausmachen würde. Ich hatte gedacht, die schlimmen, die schwierigen Tage, bereits hinter mir zu haben: die Beerdigung, der 60. Geburtstag meiner Mutter, Weihnachten. Doch dann wachte ich am Morgen des 7. Juni mit einem Knoten im Magen auf, mein Kopf dröhnte. Ich lag im Bett und wollte am liebsten gar nicht aufstehen. Der Tag war grau und trüb, mein Opa und ich hantierten auf dem Weg zum China-Restaurant mit einem gigantischen Regenschirm. Nach dem Essen, als ich meinen Opa nach Hause gebracht hatte, klarte der Himmel auf, es wurde wärmer und ich beschloss, meine Oma zu besuchen. Ich war schon so oft auf dem Friedhof gewesen, an ihrem Grab, in verschiedenen Gemütszuständen. Diesmal stand ich am Grab meiner Oma und war so traurig wie seit Wochen nicht mehr. Die 90, das wusste ich, hätte meine Oma gerne noch geschafft. Sie hätte vieles noch gerne geschafft, setzte sich ständig neue Ziele: noch diesen Geburtstag miterleben, noch bis dahin durchhalten. Ich hatte immer Angst, dass sie, wenn es so weit war, nicht würde loslassen können. Am Ende ging dann doch alles ganz schnell. Meine Oma hatte abgeschlossen, sie ließ los, starb ohne Schmerzen, friedlich. Vom Friedhof schleppte ich mich nach Hause und setzte mich in den Garten. Mehrere Freundinnen schrieben mir, fragten, ob ich den Tag gut überstanden hätte. Ich war dankbar, so dankbar dafür, dass andere Menschen verstanden, wie schwer das alles immer noch war, nach all diesen Monaten. Abends ging ich früh ins Bett, froh, dass der Tag vorbei war. Der Tag, von dem ich nicht erwartet hatte, dass er so schwer sein würde.
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Vor genau einem Jahr ist meine Oma gestorben und ich habe mich daran gewöhnt, die Stimme meines Opas zu hören, wenn ich die Nummer meiner Großeltern wähle. Ich habe mich daran gewöhnt, meine Oma nicht mehr in ihrem Sessel sitzen zu sehen, wenn ich die Wohnung meiner Großeltern betrete. Ich habe mich daran gewöhnt, auf den Friedhof zu gehen und dort vor ihrem Grabstein zu stehen. Ich habe mich daran gewöhnt, dass Menschen mir sagen, meine Oma sei ja alt und krank gewesen – ich weiß, sie meinen es gut. Es stimmt, dass meine Oma alt war und schwer krank. Aber es ändert nichts daran, dass meine Oma, die 34 Jahre lang Teil meines Lebens war, nun nicht mehr da ist. Nie mehr da sein wird.
Woran ich mich nicht gewöhnt habe, ist, wie meine Trauer mich überrascht. Immer wieder. Wie sie unvorhergesehen auftaucht, sich in kleine Momente und Situationen stiehlt. Momente, in denen ich plötzlich die Stimme meiner Oma in meinem Kopf höre, oder in denen etwas, irgendetwas, eine Flut von Erinnerungen auslöst.
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Ein aus Düsseldorf stammender Freund hat in den letzten Jahren beide Eltern verloren, sie wurden eingeäschert und im Rhein verstreut. Er fände den Gedanken schön, sagte der Freund, dass seine Eltern immer da seien, wenn er zum Rhein ginge. Manchmal würde er dort bewusst seine Eltern besuchen, manchmal dort mit ein paar Leuten Bier trinken, aber seine Eltern, die wären eben auch irgendwie dabei. Dieser Gedanke tröstet mich. Natürlich gehe ich zum Friedhof, wenn ich in Herne bin, doch näher fühle ich mich meiner Oma dadurch nicht. Anders gesagt: Ich brauche nicht den Friedhof, um mich ihr nahe zu fühlen. Sie ist immer da, um mich herum, in den Erinnerungen und Geschichten, in Fotos und kleinen Erbstücken, die sich in meiner Wohnung befinden. In der Stimme in meinem Kopf.
Die US-amerikanische Schriftstellerin Joan Didion, die innerhalb kurzer Zeit ihren Ehemann und ihre Tochter verlor, schreibt in Das Jahr magischen Denkens: „Leid, so stellt sich heraus, ist ein Ort, den von uns niemand kennt, solange wir nicht dort sind.“ Vor genau einem Jahr ist meine Oma gestorben und mittlerweile kenne ich ihn besser, diesen Ort, der Leid heißt, Trauer. Ich kann ihn besser navigieren – und habe ihn als einen der vielen Orte akzeptiert, die ich in meinem Leben besuche. Ich bin immer noch nicht wieder die, die ich einmal war. Vielleicht werde ich nie wieder diese Person sein, die Person, die ich war, als meine Oma noch zu meinem Leben gehörte. Das ist okay. Ein Jahr nach dem Tod meiner Oma bin ich immer noch sehr oft sehr traurig, aber nicht mehr so oft wie noch vor ein paar Monaten. Vor allem bin ich dankbar: für die Zeit, die ich mit meiner Oma hatte, für alles, was diese bockige, störrische, eitle, großzügige, kleine Frau mir gegeben hat. Meine Oma Betty.
Hallo Julia,
welch wunderschöner Text!
Ich kann dir aus Erfahrung sagen, dass die Trauer über den Verlust aller lieben Menschen nie vergeht! Sie ist nicht mehr ständiger Begleiter - aber sie kommt immer wieder, wenn besondere Tage, Situationen oder sogar Gerüche dich an den Menschen erinnern. Man muss lernen damit zu leben! Mit der Zeit drängen sich dann die positiven, schönen, lustigen Erinnerungen dazwischen und man freut sich darüber, Zeit mit den lieben Menschen verbracht zu haben!
Jutta ❤️
Vielen Dank für diesen schönen Text, jetzt habe ich das Gefühl, deine Oma ein kleines bisschen zu kennen. Und frage mich, wie es gewesen wäre, wenn meine Großeltern länger gelebt hätten. Sie sind gestorben, als ich noch in der Schule und Anfang 20 war, und ich glaube, unsere Beziehung hätte sich unter anderen Umständen noch stark verändert (so oft fallen mir Fragen ein, die ich heute gern stellen würde!).