Frau Korbik // Die Essenz eines Sommers
Es gibt Tage, die in sich die ganze Essenz einer bestimmten Zeit enthalten.
So wie dieser: Ein Sommertag vor fast genau vier Jahren, im Juli 2018. Ich war bei meiner Familie im Ruhrgebiet, am nächsten Tag würden meine Großeltern ihre Eiserne Hochzeit feiern sowie ihre Geburtstage: Meine Oma war im Juni 85 geworden, mein Opa im Juli 90. Meine Familie feiert gerne viele Dinge auf einmal, es ergibt sich meistens so: Als mein Vater 65 wurde und in Rente ging, hatten er und meine Mutter außerdem ihre Silberhochzeit (sein erklärtes Ziel, Silberhochzeit mit drei verschiedenen Frauen zu feiern, hat mein Vater bisher nicht umsetzen können).
Herne im Sommer hat etwas Magisches an sich, was weniger mit der Stadt selbst zu tun hat, als vielmehr mit der Atmosphäre. Mit dem Garten meiner Eltern und damit, wie ich Stunden lesend dort verbringe, und wie die Pflanzen riechen, wenn meine Mutter sie am Ende eines warmen Tages gegossen hat. Es ist so anders als in Berlin, wo der Sommer vor allem nach Müll stinkt und die Hitze zwischen den Gebäuden steht wie eine Wand.
2018 war ein heißer, ein sehr heißer Sommer. Meine Schwester sprach von Klimawandel und sterbender Natur, ich freute mich ganz egoistisch über die Wärme, die sich schon am frühen Morgen wie eine Decke auf mich legte. Es war auch der Sommer, in dem Mamma Mia – Here we go again! in die Kinos kam. Den Originalfilm (Mamma Mia!) hatte ich nicht im Kino gesehen – natürlich nicht, denn 2008 war ich eine snobistische Studentin, die ihre Zeit mit Vorliebe in Münsteraner Indie-Clubs verbrachte. Doch selbst eine snobistische Studentin konnte sich der Macht von ABBA nicht widersetzen und so schaute ich Mamma Mia! eines Abends zusammen mit meinen Eltern, als der Film im Fernsehen kam. Nichts an diesem Film ist logisch, die Handlung nebensächlich. Aber die Menschen! Die Musik! Die Kulisse! Jeder Anflug von Zynismus oder Kritik wird weggeschwemmt von Meryl Streep in Latzhosen, Christine Baranski und ihrer Performance von Does your mother know, und natürlich von Pierce Brosnan, Colin Firth und Stellan Skarsgård als potenziellem Vater-Trio. Alles ist lächerlich, und gerade deshalb ist alles so gut.
Mamma Mia – Here we go again! lief im Herner Kino und am Abend vor der Eisernen Hochzeit meiner Großeltern schaute ich mir den Film mit meiner Mutter und einer ihrer Freundinnen an. Der Kinosaal war voller Frauen. Enthusiastische Frauen. Laute Frauen. Frauen mit Sekt in der Hand. Frauen, die bei den Liedern mitsangen. Frauen, die lachten, seufzten und ganz offensichtlich die Zeit ihres Lebens hatten. Als schließlich Cher auf der Bildfläche erschien und Fernando sang (der beste ABBA-Song überhaupt), gab es kein Halten mehr.
Auf dem Rückweg im Auto sangen meine Mutter und ich. Wir schäumten fast über. Um uns herum perlte die Nacht und alles schien amüsant und leicht und entzückend.
Als wir in unsere Einfahrt einbiegen wollten und das Scheinwerferlicht auf die Nachtbareinfahrt fiel, spähte meine Mutter angestrengt. „Was ist das da?“, fragte sie. Ich sagte: „Vielleicht… ist es der Marder!“ Meine Mutter zuckte zusammen: „Das ist nicht lustig, wirklich, gar nicht lustig.“ Aber natürlich war es lustig und wunderbar, so wie alles in dieser Nacht. Der Marder mochte meine Eltern wochenlang terrorisiert und den ganzen Dachboden mit Überbleibseln seiner tierischen Mahlzeiten und Kot übersät haben – aber in diesem Augenblick kam mir nichts lustiger vor als die Vorstellung, dass dieses Biest dort im Dunkeln auf uns lauerte. Ich lachte, als ich aus dem Auto ausstieg, ich lachte, als ins Haus tänzelte, ich lachte, als ich bei Spotify nach einem Song suchte und ich lachte, als ich diesen Song – Fernando, natürlich – meinem Vater vorspielte und ihn damit aus dem Halbschlaf riss.
Heute, vier Jahre später, fällt es mir schwer, in Worte zu fassen, was diesen Abend, diesen Sommer, so besonders machte. Als ich letztens versuchte, es einer Freundin zu beschreiben, hörte sich dieser magische Abend banal an, gewöhnlich. Ich konnte nicht genau sagen, warum er mir so wichtig war. Wichtig ist. Aber vielleicht ist das auch gar nicht nötig. Denn die Bilder und die Musik sind in meinem Kopf. Ich weiß noch genau, wie sich alles anfühlte, damals, in diesem heißen Sommer 2018. Ein Sommer, der große Veränderungen mit sich brachte, aber eben auch dieses Gefühl von Leichtigkeit, von angenehmem Schwindel.
Ein Sommer, dessen Essenz in genau diesem Kinoabend enthalten ist.
Gehört
Ich bin verspätet zur Wet Leg-Party aufgetaucht, aber jetzt voll dabei. On the chaise longue, all day long, on the chaise longue.
Und apropos weibliche Rockbands: Letztens las ich einen Artikel über die in Vergessenheit geratene Band Fanny – die erste Frauenband, die ein Album bei einem Major Label herausbrachte. Eine wirklich tolle Band, so toll, dass ich sie direkt mit meinem Vater diskutieren musste. Er war schließlich in einem früheren Leben auch mal Rockstar, zumindest fast – es dauerte, bis meine Schwester und ich verstanden, dass die Band, in der er Bass spielte, nicht Sundabörds hieß, sondern Thunderbirds. Mein Vater schwelgte in Erinnerungen an seine wilde Zeit und daran, dass einmal eine britische Frauenband namens Liverbirds in derselben Ruhrgebiets-Location spielte wie er und seine Jungs. Der NDR hat einen netten Clip zu den rockenden Birds. Ob es wohl auch einen von den Thunderbirds gibt?
Gelesen
Immer mal wieder lese ich Kurzgeschichten von Anton Tschechow, kehre zu ihnen zurück. Tschechow, so scheint mir, war ein Mann, der die Menschen mit all ihren Fehlern und Eigenheiten sah – und dessen Blick trotzdem voller Empathie und Mitgefühl war. Kaum einer seiner Charaktere ist sympathisch. Im Gegenteil: Viele der Männer und Frauen, die sich in seinen Geschichten tummeln, haben Vorurteile, sind von sich selbst überzeugt, behandeln andere schlecht oder lästern über ihre Mitmenschen. Und doch. Und doch gibt es in jeder von Tschechows Geschichten diesen einen Moment – der Moment, der dafür sorgt, dass man aus der Geschichte anders herausgeht als man hineingekommen ist.
Meine Lieblingsgeschichten von Tschechow: Auf dem Wagen, In der Heimat, Bei Bekannten und Die Dame mit dem Hündchen.
Gesehen
The Dropout (Disney+/Hulu)
Amanda Seyfried ist so so gut als Elizabeth Holmes, die Frau, die mit ihrem Unternehmen Theranos versprach, anhand eines einzigen Bluttropfens eine Vielzahl an Tests durchführen zu können. Holmes galt als Shooting Star, als große Hoffnung. Dann stellte sich heraus: Alles gelogen. Theranos hatte Anleger:innen, Investor:innen und Kund:innen getäuscht, die angeblich bahnbrechende Technologie konnte nicht annähernd das, was Holmes jahrelang behauptet hatte. Holmes musste 2022 vor Gericht, wurde verurteilt – und wartet momentan darauf, dass das Strafmaß verkündet wird.
Seit ich die Serie gesehen habe, geht mir eine Szene nicht mehr aus dem Kopf, in der Seyfried alias Holmes mit einer Drachen-Fingerpuppe hantiert und in der typischen Holmes-Stimme sagt: „It’s a dragon puppet.“ Mehrere Menschen in meinem Umfeld mussten sich bereits meine Darbietung dieser Szene anhören (sorry not sorry.) Wer kein Disney+ oder Hulu hat: The Dropout basiert auf dem gleichnamigen Podcast von ABC News, den man überall dort hören kann, wo es Podcasts gibt. Und: Passenderweise habe ich vor ein paar Jahren einen Artikel darüber geschrieben, warum die Betrügerin die Frau der Stunde ist.
In eigener Sache (wobei, diesmal nicht so richtig)
Seit drei Monaten ist schon Krieg in der Ukraine und es scheint, als würde dieser Krieg nicht so schnell enden. Was oft vergessen wird, ist, dass schon seit Jahren Krieg herrscht in der Ukraine – seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014. Mit cafébabel habe ich vor einigen Jahren ein Projekt realisiert: Beyond 91 brachte 14 junge Journalist:innen und Fotograf:innen für sieben grenzübergreifende Reportagen zusammen. Sie berichteten aus Russland, Belarus, Moldau, Litauen, Estland, Lettland – und der Ukraine.
In Die Krim-Choreografen schreibt Tatiana Kozak über das ukrainische PostPlay-Theater, das politische Stücke inszeniert. Sie schreibt auch über das Theater of Displaced People, das sich in Popasna befindet, im Donbass. Beide Theatergruppen versuchen, die Annexion der Krim und den daraus folgenden Krieg zu verarbeiten. Tatiana schreibt über russische und ukrainische Identität, über Angst, Trauer und Zerrissenheit.
Seit 25 Jahren stellt die ukrainische Gesellschaft sich die Frage: „Wer sind wir?“ Diese lange Suche nach Selbstidentität hat das Land in einen Konflikt gestürzt, sowohl auf der Krim als auch im Donbass. Davon abgesehen existieren aber noch viel mehr Widersprüche und Ängste – und Anton bringt sie auf der Bühne alle ans Licht.
„Ich wurde auf der Krim geboren und bin dort aufgewachsen“, sagt er. „Wenn du Krimbewohner bist, musst du dich zwischen der Identität als Ukrainer oder Russe entscheiden.“ Dann erklärt Anton, dass seine Familie russische Wurzeln hat, er selbst sich aber entschied, Ukrainer zu sein. „In meinem Fall wäre ich immer ein Verräter, egal wofür ich mich entscheiden würde.“
Alle Reportagen aus dem Beyond 91-Projekt sind lesenswert – aber an Tatianas Geschichte denke ich momentan besonders oft. Tatiana ist, natürlich, in ihrer ukrainischen Heimat unterwegs, um über das zu berichten, was in Russland nicht „Krieg“ heißen darf. Ihr Twitter-Account ist dieser.