Frau Korbik #01 // Summertime Sadness
In Berlin zu leben bedeutet, sich exzessiv und monatelang auf den Sommer zu freuen. Der Berliner Winter dauert bekanntlich ungefähr ein halbes Jahr, und in diesem starrt man gefühlt jeden Tag das immer gleiche Stück grauen Himmel an. Kein Wunder, dass ich Bekannte oder Freund*innen aktiv von einem winterlichen Berlin-Besuch abhalte, vor allem dann, wenn dieser Besuch ihr erster in der Stadt wäre – zu groß ist meine Besorgnis, Berlin in seiner schmuddeligen Griesgrämigkeit könnte einen schlechten Eindruck machen. Es ist wie bei neuen Beziehungen: Seinen aktuellen Herzensmenschen möchte man den Eltern schließlich auch nur im besten Licht präsentieren.
Weil der Berliner Winter so dermaßen trostlos ist, sind die Erwartungen an den Berliner Sommer™ umso höher. Er ist die Belohnung, die einem als Belohnung für das Durchleben eines weiteren Berliner Winters zusteht. Er wird erhöht und mystifiziert. Er muss sich beweisen, und zwar so richtig. Das ist ihm, finde ich, in diesem Jahr noch nicht besonders gut gelungen. Einerseits liegt das am Wetter: Wo sind die heißen Tage, die ineinander überfließen, wo die lauen Nächte, die man am besten draußen verbringt, am Kanal, an der Spree, im Café, im Park? Wo ist die drückende Wärme in meiner Wohnung, so dick, dass man sie fast schneiden kann? Wo ist der süßliche Geruch des Mülls, der draußen in der Luft hängt (eine der wichtigsten Duftkomponenten des Berliner Sommers™)?
In Wahrheit ist aber gar nicht das Wetter das Problem, sondern Covid-19 – dieser uncharmante Dauerbegleiter, der vor ein paar Monaten wie aus dem Nichts auftauchte und seitdem keinerlei Anstalten macht, zu verschwinden (wie der Teilzeit-Lover einer ehemaligen Mitbewohnerin, der für ein Wochenende zu Besuch kam und Tage später immer noch in der WG herumhing, angeblich deshalb, weil er die Mitfahrgelegenheit verpasst hatte). Es fällt zumindest mir doch recht schwer, den noch mehr als sonst herbeigesehnten Sommer zu genießen, wenn man sich in der Öffentlichkeit ständig an die geltenden Abstandsregeln erinnern muss. Überfüllte Strände, Wiesen und Biergärten machen schon in normalen Zeiten keinen Spaß, aber sie sind noch anstrengender, wenn ein potentiell tödliches Virus herumgeht, das nichts mehr liebt als menschliche Nähe. Und stickig-schweißige U-Bahnen werden mit Maske – noch stickiger und schweißiger. Es fehlt schlicht und einfach: die Sorglosigkeit. Dieses unbeschwerte Sich-Treiben-Lassen, durch heiße Tage und warme Nächte.
Letztens, als die Farbe des Himmels mal wieder an dreckige Wäsche erinnerte, beschloss ich bockig, dass es das dann eben war mit dem Sommer 2020. Und da fiel mir plötzlich etwas auf: Eigentlich war er doch bisher gar nicht so schlecht, dieser Sommer. Ich habe bis spät in den Abend hinein mit Freund*innen draußen Wein getrunken. Ich habe im Park gelegen und gelesen. Ich habe einen Tag am See verbracht. Ich habe meine Familie besucht (und den heimischen Garten genutzt). Ich habe ein bisschen Farbe bekommen. Es sind kleine Dinge, die mir zeigen, was Sommer für mich wirklich bedeutet: kultivierte Trägheit, Müßiggang, gemäßigtes Tempo.
Sommer, das habe ich in diesem Jahr ganz deutlich gemerkt, ist auch ein Gemütszustand – so blöd das klingen mag. Er ist, was ich draus mache. Ernest Hemingway schrieb einst über Paris, die Stadt sei „a moveable feast“, also ein bewegliches Fest, etwas, das man mit sich tragen kann, wo auch immer man ist. Vielleicht ist es mit dem Sommer genauso. Bisher hatte ich jedes Jahr Angst, den Sommer „falsch“ zu machen. Ihn nicht gut genug zu nutzen. Kurz zu blinzeln und ihn an mir vorbeirauschen zu sehen. Aber durch die Corona-Misere bin ich gelassener geworden. Sie hat mir gezeigt, dass ich auf viele Dinge sowieso keinen Einfluss habe – und auf das Wetter schon gar nicht. Also kann ich mich dem Sommer genauso gut ausliefern und ihn nehmen, wie er ist. Ihn in mir tragen, selbst wenn es regnet.
Während ich diese Zeilen tippe, ist es draußen grau und lauwarm. Doch wenn der Newsletter erscheint, werden die Temperaturen in Berlin laut Wettervorhersage bereits über 30 Grad gestiegen sein und dort tagelang verharren. Ein meteorologischer Widerspruch zu all dessem, was ich in diesem Text geschrieben habe. Was soll’s. Denn vielleicht ist er diesmal ja tatsächlich gekommen, um zu bleiben: der Berliner Sommer™.
Gehört
Ich liebe ein gutes Konzeptalbum. Ob die Haim-Schwestern ihr neues Werk Women in Music Part III überhaupt als solches konzipiert haben, keine Ahnung. Für mich aber schreit jeder Song darauf „Sommer!“, und das in Großbuchstaben: „SOMMER!“. Die Grundstimmung des Albums ist lässig-zurückgelehnt, schwebende Klänge und jaulende Gitarren gehen eine überraschend harmonische Symbiose ein. Beim Hören wähnt man sich im sonnigen Kalifornien – aber eher im Kalifornien von gestern als in dem von heute. Ein Kalifornien, in dem es nicht überraschend wäre, an der nächsten Ecke Joan Didion mit ihrer gigantischen schwarzen Sonnenbrille zu begegnen.
Gelesen
Weil mein Gehirn sich in den letzten Wochen zunehmend in eine breiige Masse ohne nennenswerte Aufmerksamkeitsspanne verwandelt zu haben scheint (Buch-Deadline sei Dank), lese ich momentan vor allem Bücher, die man im positiven Sinne als „Strandlektüre“ bezeichnen könnte, da unterhaltsam, fesselnd und/oder gut in kleineren Einheiten konsumierbar. So wie Big Friendship. How we keep each other close: Darin schreiben Ann Friedman und Aminatou Sow (bekannt durch ihren fantastischen Podcast Call Your Girlfriend) sehr persönlich darüber, was eine Freundschaft ausmacht und wie man sie am Leben hält. Emma Straubs The Vacationers (dt. Ein Sommer wie kein anderer) erzählt die Geschichte einer amerikanischen Familie, die ihren Sommerurlaub in Spanien verbringt – stellenweise urkomisch und voller liebenswert-neurotischer Charaktere. Außerdem auf meinem Nachtisch: Girl, Woman, Other von Booker Prize-Gewinnerin Bernardine Evaristo. Die zwölf weiblichen Charaktere sprechen über Mutterschaft, Sexualität und Identität. Darüber, was es bedeutet, eine schwarze Frau im heutigen Großbritannien zu sein. Meine absolute Lieblings-Sommerlektüre ist übrigens Sommerschwestern von Judy Blume. Ein rundum perfektes Buch über eine Frauenfreundschaft, das ich jedes Jahr in den Sommermonaten lese (wie oft kann ich das Wort „Sommer“ in zwei Sätzen schreiben? Antwort: oft).
Gesehen
Meine Schwester empfahl mir diese hervorragende Dokumentation über das sogenannte „Jahr ohne Sommer“ 1816: Durch den Ausbruch des Vulkans Tambora auf der Insel Sumbawa 1815 veränderte sich die Erdatmosphäre so nachhaltig, dass der Sommer 1816 in vielen Regionen weltweit ungewöhnlich kalt, dunkel und regnerisch war, was zu Ernteeinbußen und Hungersnöten führte. Mary Shelley schrieb in dieser Zeit ihren Frankenstein: Weil es draußen so nass, gewittrig und stürmisch war, waren Shelley und ihre Mitreisenden (u.a. Lord Byron) gezwungen, sich drinnen aufzuhalten. Und sich die Zeit mit dem Erfinden von Schauergeschichten zu vertreiben.
Gegessen
Vor Jahren habe ich im nun leider nicht mehr existierenden WAU (R.I.P.) am Halleschen Ufer einen schlichten, aber exzellenten Salat gegessen, der am besten schmeckt, wenn es draußen warm ist. Voilà: Wassermelonen-Feta-Salat. Das Schöne an Salaten ist ja, dass man sie nicht wirklich „kochen“, sondern nur „zubereiten“ muss. In diesem Fall braucht man Wassermelone, eine Packung Feta, ein paar Blätter frische Minze, Olivenöl, Zitronensaft und Honig (oder Agavendicksaft). Das sind sehr vage Mengenangaben, ja, aber das lässt Raum für Improvisation. Mehr Melone, weniger Melone, alles ist möglich! Das Fruchtfleisch der Melone in – wie heißt es so schön – mundgerechte Stücke schneiden, den Feta würfeln oder krümeln. Aus dem Olivenöl, dem Zitronensaft und dem Honig ein Dressing zubereiten (je nach Geschmack säuerlicher oder süßlicher). Salzen und pfeffern. Die Melonenstücke in eine Schüssel geben und das Dressing darüber gießen. Ein paar Minuten ziehen lassen. Dann den Feta und die Minze hinzugeben. Alles vermengen. Je nach Geschmack salzen und pfeffern. Der Salat schmeckt auch gut, wenn man ihn ergänzt mit, zum Beispiel, Rucola, gerösteten Nüssen, Oliven oder roten Zwiebeln. Dazu passt krustiges Weißbrot.
In eigener Sache (#SELFPROMOTION)
Ende Mai 2020 ist die französische Übersetzung von Oh, Simone! erschienen: Oh, Simone! Penser, aimer, lutter avec Simone de Beauvoir (brillant übersetzt von Julie Tirard). Der Zeitpunkt, ein Buch zu veröffentlichen, könnte natürlich kaum schlechter sein – umso schöner, dass die Reaktionen bisher positiv bis enthusiastisch waren und ein Buchladen in Limoges Oh, Simone! und Simone de Beauvoir sogar ein ganzes Schaufenster gewidmet hat.
Für das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen habe ich eine Kurzgeschichte geschrieben, die das Ziel hat, Menschen für häusliche und Partnerschaftsgewalt in ihrem Umfeld zu sensibilisieren. Sie heißt Gut genug und hier kann man sie lesen oder hören.
Auf This is Jane Wayne habe ich eine Ode an das Spazierengehen verfasst.
Am 27. August bin ich, so Corona will, mit meinem Buch Stand up. Feminismus für alle in Bremen zu Gast. Infos und Tickets gibt es hier.
Anmerkungen/Fragen/Liebesbriefe? Gerne an juliakorbik@gmail.com!